„Da die Antarktis in den vergangenen Jahren mehr und mehr Eis verloren hat, wurden Bedenken laut, ob nicht bereits ein Kipppunkt überschritten wurde, der zu einem irreversiblen, langfristigen Kollaps des westantarktischen Eisschildes führen würde”, erklärt Ronja Reese vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und der Northumbria University, Newcastle. „Die Ergebnisse unserer beiden zusammengehörenden Studien zeigen zweierlei: Im derzeitig beobachteten Rückzug, den wir bei einer Reihe von Gletschern in der Antarktis sehen, finden wir bislang keine Anzeichen für einen irreversiblen, sich selbst verstärkenden Eisverlust, was beruhigend ist. Unsere Berechnungen zeigen aber auch, dass ein unumkehrbarer Rückzug des Eisschildes in der Westantarktis bereits unter aktuellen Klimabedingungen möglich ist.”
Die Hauptursache für den Eisverlust in der Westantarktis ist relativ warmes Ozeanwasser. Dieses beschleunigt das Schmelzen unter den Eisschelfen, den schwimmenden Ausläufern des auf dem Untergrund aufliegenden Eisschildes. Das Schmelzen der Eisschelfe kann den Eisverlust verstärken, indem es die Gletscher und Eisströme im Inland beschleunigt. Deshalb sind die antarktischen Eisschelfe mit ihren Aufsetzlinien - den Zonen, die das auf Grund aufliegende Eis von den schwimmenden Eisschelfen trennen - ein wichtiger Indikator für den Zustand des Eisschildes. Ein beschleunigter Rückzug der Aufsetzlinien könnte ein Hinweis auf einen bevorstehenden Zusammenbruch großer mariner Bereiche des westantarktischen Eisschildes sein – also jener Teile des Eisschildes, die auf Grund unter dem Meeresspiegelniveau liegen.
Ein Prozess von vielen Jahrtausenden, ausgelöst heute: Unumkehrbarer Eisverlust und Meeresspiegelanstieg
Mit Hilfe von Eisschildmodellen konnten die Forschenden nicht nur nach Anzeichen für einen gegenwärtigen unumkehrbaren Rückzug in den marinen Teilen des antarktischen Eisschildes suchen. Sie führten auch hypothetische Simulationen durch, um zu untersuchen, wie sich der Eisschild über 10.000 Jahre entwickeln würde, wenn die derzeitigen Klimabedingungen unverändert blieben. Diese Experimente deuten darauf hin, dass selbst ohne eine zusätzliche Erwärmung über das heutige Maß hinaus die Gefahr besteht, dass einige marine Bereiche des westantarktischen Eisschildes langfristig kollabieren. Da das Eis nur langsam auf Veränderungen reagiert, geschieht ein solcher Eisrückgang in den Modellen den Forschenden zufolge frühestens in 300 bis 500 Jahren unter den gegenwärtigen Klimabedingungen. Ein vollständiger Zusammenbruch würde Jahrhunderte bis Jahrtausende dauern.
„Die Krux beim durch die Antarktis verursachten Meeresspiegelanstieg ist, dass die Veränderungen nicht über Nacht eintreten und eine unmittelbare Bedrohung für die weltweiten Küstengebiete darstellen. Vielmehr würde sich der Prozess des Abschmelzens über Hunderte oder Tausende von Jahren hinziehen. Aber unser Handeln heute könnte potenziell in mehreren Jahrtausenden einen globalen Meeresspiegelanstieg von einigen Metern verursachen. Und eine stärkere Erwärmung in der Zukunft würde diesen Prozess sogar noch beschleunigen“, betont Julius Garbe vom PIK.
Eine der größten Unsicherheiten bei der Vorhersage des globalen Meeresspiegelanstiegs bleiben weiterhin die Veränderungen des Eisverlustes in der Antarktis. „Das Eis der Antarktis ist unser ultimatives Erbe der Vergangenheit – Jahrmillionen alt und oft als ‚ewiges‘ Eis bezeichnet. Aber unsere Arbeit zeigt: Auch wenn der gegenwärtig beobachtete Eisverlust noch umkehrbar sein mag, könnte eine Destabilisierung der marinen Bereiche des Eisschildes langfristig einen stetigenen, unaufhaltsamen Eisverlust einleiten. Bereits die heute gemessene Erderwärmung könnte ausreichen, um die Entwicklung hier vollständig aus dem Gleichgewicht zu bringen, das ist besorgniserregend. Da die Westantarktis jedoch noch nicht destabilisiert ist, besteht noch die Chance, das Risiko durch ehrgeizige Klimaschutzmaßnahmen zumindest teilweise zu mindern“, fasst Ricarda Winkelmann vom PIK zusammen.
Artikel:
Emily A. Hill, Benoît Urruty, Ronja Reese, Julius Garbe, Olivier Gagliardini, Gaël Durand, Fabien Gillet-Chaulet, G. Hilmar Gudmundsson, Ricarda Winkelmann, Mondher Chekki, David Chandler, Petra M. Langebroek (2023): The stability of present-day Antarctic grounding lines – Part 1: No indication of marine ice sheet instability in the current geometry, The Cryosphere, 17, 3739–3759 [DOI: 10.5194/tc-17-3739-2023]
Ronja Reese, Julius Garbe, Emily A. Hill, Benoît Urruty, Kaitlin A. Naughten, Olivier Gagliardini, Gaël Durand, Fabien Gillet-Chaulet, G. Hilmar Gudmundsson, David Chandler, Petra M. Langebroek, Ricarda Winkelmann (2023): The stability of present-day Antarctic grounding lines – Part 2: Onset of irreversible retreat of Amundsen Sea glaciers under current climate on centennial timescales cannot be excluded, The Cryosphere, 17, 3761–3783 [DOI: 10.5194/tc-17-3761-2023]
Weblink zu den Artikeln:
https://tc.copernicus.org/articles/17/3739/2023/ und https://tc.copernicus.org/articles/17/3761/2023/
Video zu den Ergebnissen der Studien:
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