Ein internationales Forscherteam um Elmar Kriegler vom Potsdam-Institut
für Klimafolgenforschung (PIK) hat 52 Klimaforscher zur Anfälligkeit
fünf so genannter Kippelemente befragt. Das sind Bestandteile des
Klimasystems, die durch den menschlichen Einfluss sprunghaft und
teilweise unumkehrbar verändert werden könnten. In der aktuellen
Untersuchung werden die Thermohaline Atlantikzirkulation, das
Klimaphänomen El Niño, der Amazonas-Regenwald sowie der Grönländische
und der Westantarktische Eisschild betrachtet.
43 der Experten gaben jeweils eine Ober- und Untergrenze für die
Wahrscheinlichkeit an, mit der nach ihrer Einschätzung grundlegende
Veränderungen dieser Elemente in drei Szenarien der künftigen
Temperaturentwicklung eintreten. Die Befragten gingen von einer
weiteren Erwärmung bis zum Jahr 2200 um weniger als zwei Grad, um zwei
bis vier Grad oder von einer extremen Erwärmung um vier bis acht Grad
Celsius aus. „Eine starke Erwärmung um mehr als vier Grad Celsius bis
zum Jahr 2200 erscheint bislang durchaus möglich“, sagt Kriegler.
Die Auswertung der Befragung ist nun in der Online-Ausgabe der
„Proceedings“ der US-amerikanischen Nationalen Akademie der
Wissenschaften erschienen. Bei einem Temperaturanstieg von zwei bis
vier Grad Celsius wird demnach mindestens ein Element mit einer
Wahrscheinlichkeit von etwa eins zu sechs kippen. Bei noch stärkerer
Erwärmung steigt die Wahrscheinlichkeit auf über eins zu zwei (56
Prozent). Die Mehrheit der Befragten betrachtet die Wahrscheinlichkeit
als besonders hoch, dass in diesem Erwärmungsszenario der Grönländische
Eisschild abschmilzt und der Amazonas-Regenwald großflächig abstirbt.
„Die Ergebnisse zeigen, dass die angegebenen Wahrscheinlichkeiten sehr
stark zunehmen, je stärker die zugrunde gelegte Erwärmung ist“, fasst
Kriegler das Meinungsbild zusammen.
An Experten-Umfragen werde bisweilen kritisiert, dass sie nichts Neues
zum Wissensstand beitragen, solange sie nicht durch neue Daten oder
Modellierungen gestützt würden oder neue Theorien enthielten, schreiben
die Autoren. Im Zusammenhang mit Risikoanalysen hätten sie sich jedoch
als geeignetes Mittel bewährt, Expertenwissen so zusammenzufassen, dass
es in den politischen Entscheidungsprozess einfließen kann. „Wir
verordnen der Gesellschaft keine klimapolitischen Maßnahmen“, sagt Hans
Joachim Schellnhuber, Direktor des PIK und Koautor der aktuellen
Veröffentlichung. Die Ergebnisse der Umfrage seien aber ein weiterer
Hinweis darauf, dass ambitionierter Klimaschutz notwendig ist, um die
die Risiken von schweren Folgeschäden für den gesamten Planeten zu
minimieren.
Neuorganisation der Thermohalinen Atlantikzirkulation: Gegenüber
geringer Erwärmung sieht die Mehrheit der befragten Experten die
Meeresströmungen als stabil an. Bei starker Erwärmung von mehr als vier
Grad Celsius werden jedoch deutlich höhere Wahrscheinlichkeiten für
einen Zusammenbruch des heutigen Strömungssystems angegeben.
Gehäuft auftretende El-Niño-Ereignisse und großflächiges Absterben
des Amazonas-Regenwalds: Selbst bei starkem Anstieg der globalen
Durchschnittstemperatur erwarten einige Experten keine Veränderungen
des Klimaphänomens El Niño. Andere rechnen damit, dass es gehäuft
auftreten würde. Der Fortbestand des Amazonas-Regenwaldes hängt
wesentlich von den möglichen Änderungen ab, da das Klimaphänomen
Trockenheit in die Region bringt. Unter gehäuft auftretenden
El-Niño-Bedingungen zeigen Modelle ein großflächiges Absterben des
Regenwaldes. Die Mehrheit der Experten nimmt eine Wahrscheinlichkeit
von etwas mehr als eins zu zwei an, mit der der Regenwald bei einer
Erwärmung um mehr als vier Grad großflächig abstirbt.
Abschmelzen des Grönländischen Eisschilds: Selbst bei einer
Erwärmung von weniger als zwei Grad sehen einige Befragte die Gefahr,
dass der Eisschild abschmelzen wird. Bei starker Erwärmung von mehr als
vier Grad erwarten fast alle Experten, dass das Abschmelzen mit hoher
Wahrscheinlichkeit von mehr als eins zu zwei eintritt.
Zerfallen des Westantarktischen Eisschilds: Über die Entwicklung
dieses Eisschildes bestehen größere Unsicherheiten, sodass die Experten
die Wahrscheinlichkeit eines Zerfallens unterschiedlich bewerten.
Höhere Risikoeinschätzungen können sich auf neuere Befunde stützen,
nach denen das Abbrechen des Schelfeises am Rand der Westantarktis den
Gletscherfluss im Landesinneren beschleunigt.
Artikel: Elmar Kriegler, Jim W. Hall, Hermann Held,
Richard Dawson, and Hans Joachim Schellnhuber (2009). Imprecise
probability assessment of tipping points in the climate system.
Proceedings of the National Academy of Sciences, Online Early Edition
Siehe auch folgende Pressemitteilung:
"Kippelemente
im Klimasystem der Erde"
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Experten schätzen Anfälligkeit des Klimasystems ein
17.03.2009 - Nach Einschätzung von Klimaforschern in einer aktuellen Expertenbefragung werden bei ungebremster globaler Erwärmung mit mehr als fünfzig Prozent Wahrscheinlichkeit folgenschwere Veränderungen auf globaler Ebene eintreten. Steigt die globale Durchschnittstemperatur um mehr als vier Grad Celsius, könnten bis zum Jahr 2200 ein oder mehrere Bestandteile des Klimasystems in einen neuen Grundzustand übergehen. Zwar schätzen die Wissenschaftler die Anfälligkeit dieser Bestandteile unterschiedlich ein und es ist ungewiss, wie stark die globale Durchschnittstemperatur weiter ansteigt. Diese Unsicherheit bedeutet jedoch nicht, dass Ereignisse mit weit reichenden Auswirkungen unwahrscheinlich sind, berichten die Autoren der Studie im Wissenschaftsmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“.