Betrachtet man die Hirnaktivität des Menschen mit einem bildgebenden Verfahren wird deutlich, wie strikt die Aufgaben auf unterschiedliche Regionen dieses Organs verteilt werden. Je nachdem ob der Proband spricht oder liest, Bilder betrachtet oder Musik hört: es werden jeweils nur bestimmte Teile des Gehirns besonders aktiv. Einige dieser so genannten Cluster sind an der Verarbeitung unterschiedlicher Informationen beteiligt. Um diese Knotenpunkte herum ordnet sich die Aktivität der Milliarden Nervenzellen des Gehirns an, sodass die typischen Muster der Hirnaktivität entstehen.
„Dieser Vorgang in einem Netzwerk wird als Synchronisation bezeichnet“, sagt Jürgen Kurths, „und Knotenpunkte sind die Motoren der Synchronisation.“ Sie bestimmten die Dynamik der Wechselwirkungen im Netzwerk. Diese so genannten „Hubs“ zu identifizieren fällt dem Betrachter einer Abbildung der Hirnaktivität noch relativ leicht. Sie in komplexen Netzwerken zu identifizieren und die Verbindungen zwischen ihnen mathematisch zu beschreiben ist jedoch eine Herausforderung. Wenn ein Netzwerk aus zahlreichen Elementen besteht, die aufeinander reagieren, wie etwa die rund 100 Milliarden Nervenzellen des Gehirns, können sich hoch komplexe dynamische Muster ergeben.
Auch das Erdsystem kann als komplexes Netzwerk betrachtet werden. Mit Kurths Analysemethoden sollen zum Beispiel die Regionen rund um den Globus gefunden werden, die die Dynamik des Klimas bestimmen. Entsprechend erweiterte Modelle der Klimaforschung können auch versteckte Wechselwirkungen zwischen weit voneinander entfernten Bestandteilen des Erdsystems abbilden. So konnte Kurths bereits eine Fernverbindung zwischen dem Auftreten des pazifischen Klimaphänomens El Niño und der Ausprägung des Monsuns in Indien beschreiben (Kurzdarstellung).
Die bisherigen Modelle können auch plötzliche klimatische Veränderungen nur begrenzt simulieren. Solche Klimaumschwünge können sich an den Bestandteilen des Erdsystems ergeben, die man als Kippelemente bezeichnet. Bekanntestes Beispiel ist wahrscheinlich das Grönländeis. Beim derzeitigen Abschmelzen dieses riesigen Eisschildes könnte ein Punkt bereits überschritten worden sein, ab dem der Prozess selbstverstärkend und damit unaufhaltsam wird. Weitere Kippelemente sind das arktische Meereis, das Wachstum des Amazonas-Regenwalds oder das System der Meeresströmungen im Atlantik.
Exakte Vorhersagen, wann solche Elemente kippen, werden auch Modelle nicht berechnen können, die nichtlineare Prozesse abbilden, sagt Kurths. „Es geht bei der Analyse aber auch darum abzuschätzen, wie nahe man den kritischen Punkten für solche Kippprozesse ist“, so der Mathematiker. Nach solchen Risikoanalysen könnten Strategien entwickelt werden, den gefährlichen Klimawandel zu vermeiden und sich an die unvermeidbaren Folgen anzupassen.
„Die Betrachtung des Erdsystems als komplexes Netzwerk ist ein innovativer und ergiebiger Ansatz“, sagt Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des PIK. Kurths Forschung diene aber nicht nur der Analyse des Erdsystems, der Modellierung oder der Anpassung an Klimafolgen, sondern auch dazu, technologische Herausforderungen wie die Transformation des Energiesystems zu bewältigen. Eine aktuelle Fragestellung betrifft zum Beispiel den Aufbau eines interkontinentalen Stromnetzes. Wenn künftig etwa Windparks auf hoher See oder Solarkraftwerke in der Sahara Europa mit Strom versorgen, sollte eine möglichst verlustarme Übertragung gewährleistet sein. Die Analyse nichtlinearer Dynamik liefert auch dafür wertvolle Hinweise.
Antrittsvorlesung Prof. Dr. Dr. h. c. Jürgen Kurths:
Synchronisation in komplexen Netzwerken – Theorie und Anwendungen in Lebens- und Umweltwissenschaften
Zeit:
Dienstag, 13.01.09, 15:15 Uhr bis 17:00 Uhr
Ort:
Institut für Physik
Campus Adlershof
Humboldt-Universität Berlin
Lise-Meitner-Haus
Christian-Gerthsen-Hörsaal
Lise Meitner-Haus
Newtonstrasse 15
12489 Berlin
Homepage Kurths:
http://www.pik-potsdam.de/members/kurths
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