"Die Erwärmung nach der letzten Eiszeit ließ die Eismassen der Westantarktis schwinden", sagt Torsten Albrecht vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), einer der drei Hauptautoren der jetzt in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichten Studie. "In weiten Teilen dieser Region zog sich das Eis in einem Zeitraum von 1.000 Jahren um mehr als 1.000 Kilometer ins Landesinnere zurück – nach geologischen Maßstäben ist das ziemlich schnell. Nun aber haben wir festgestellt, dass sich dieser Prozess irgendwann teilweise umgedreht hat. Statt eines totalen Kollapses wuchs der Eisschild wieder um bis zu 400 Kilometer. Das ist eine begrenzte, aber erstaunliche Stabilisierung. Diese dauerte jedoch satte 10.000 Jahre. Angesichts der Geschwindigkeit des derzeitigen Klimawandels durch das Verfeuern fossiler Brennstoffe ist klar: der von uns entdeckte Mechanismus funktioniert leider nicht schnell genug, um die heutigen Eisschilde vor einem Schmelzen zu bewahren und damit zu verhindern, dass sie massiv beitragen können zum Anstieg des Meeresspiegels."
Das Team konnte herausfinden, warum sich das Eis in der Westantarktis wieder ausdehnte. Es ist bekannt, dass die Erdkruste durch das Gewicht der auf ihr liegenden kilometerdicken gefrorenen Wassermassen niedergedrückt werden kann - wenn das Eis verschwindet, wird die Last auf dem Boden geringer, er kann sich heben. Dies nennen die Fachleute isostatische Hebung. Deren Ausprägung hängt jedoch von den komplizierten Eigenschaften des Erdmantels in dieser Region ab - Wissenschaftler sprechen beispielsweise von der Viskosität. Bislang war nicht bekannt, dass sich die Erdkruste in der Westantarktis in einer Weise anhob, dass das schrumpfende Eis sich wieder ausdehnte. Forscher gingen bisher davon aus, dass sich nach dem letzten Gletschermaximum das Eis der Westantarktis kontinuierlich zurückzog. Jetzt scheint es, dass sie grundsätzlich Recht mit dem Rückzug hatten, aber seine Dynamik noch nicht vollständig verstanden hatten.
Drei Beweisquellen: Computersimulationen, Radardaten, Sedimente unter dem Eis
"Als ich nach dem Schrumpfen das Wachstum der Eisfläche in unseren numerischen Computersimulationen der Westantarktis beobachtete, dachte ich zuerst, dass dies ein Fehler sein könnte - es sah so anders aus als in den Lehrbüchern", sagt Torsten Albrecht. "Also begann ich, die Wechselwirkungen zwischen Eis, Ozean und Erde unter die Lupe zu nehmen." Tatsächlich erwiesen sich die Computersimulationen als wichtiges Werkzeug, um Beobachtungsdaten zu verstehen, die von anderen Wissenschaftlern ermittelt wurden. Diese Wissenschaftler hatten zunächst keine Verbindung zur Arbeit des Potsdamer Modellierungsteams - aber waren zunächst ebenso irritiert über ihre jeweiligen Ergebnisse.
Während einer Reise in die Antarktis um alte Eisströme zu untersuchen, zogen Jonathan Kingslake und Kollegen vom Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia University in New York ein Radargerät über das Eis. Zu ihrer Überraschung entdeckte das Radar Risse im Eis, wo es keine geben sollte. "Es war einfach bizarr", sagt Kingslake, ein weiterer der drei Hauptautoren der Studie. "Wir hatten solche Strukturen noch nie in der Nähe des Bodens einer Eisdecke gesehen." Weitere Analysen der Signale ergaben, dass das Eis auf dem felsigen Boden sich schnell ausgedehnt oder zusammengequetscht haben muss, während dies bisher als ein sich langsam bewegendes Gebiet galt. Das war ein Hinweis auf bislang unbekannte Veränderungen im Eis.
In einer weiteren unabhängigen Untersuchung analysierten die Wissenschaftler Sedimente, die sie entdeckten, als sie durch viele Eisschichten hindurch bis auf den felsigen Boden der Antarktis bohrten. Bislang war angenommen worden, dass dieser Boden seit der letzten Eiszeit immer von Eis bedeckt war. Aber das Team von Reed Scherer von der Northern Illinois University, dem dritten Hauptautor der jetzt veröffentlichten Studie, fand unter dem Eis die Überreste winziger Meereslebewesen, die vor langer Zeit gestorben sind. Dies deutet darauf hin, dass dieses Gebiet auch nach der Eiszeit zwischendurch dem Ozean ausgesetzt und nicht mit Eis bedeckt war. Auch dies ist auf den schnellen Rückzug und das langsame Nachwachsen des Eises vor Tausenden von Jahren zurückzuführen.
Selbst wenn das Eis in Zukunft wieder wüchse, wäre es für die Küstenstädte zu spät
Eine Reihe von Faktoren beeinflusst das Verhalten der Eismassen der West-Antarktis bei Erwärmung. In der untersuchten Region erwiesen sich die unterseeischen Berge vor dem Festlandeis als sehr wichtig für die Eisdynamik. Die Gipfel dieser Berge unter den schwimmenden Schelfeis reichen vom Grund des Ozeans bis fast an die Oberfläche hinauf. Wenn der Boden sich hebt, können sie sich langsam in das schwimmende Eis bohren und zu Ankerpunkten werden. Da sie aus festem Gestein bestehen, bremsen sie den Eisfluss und erhöhen somit die Stabilität des Eisschildes. Die Wissenschaftler bezeichnen dies als Stützeffekt. In anderen Gebieten könnten diese Bedingungen für die Stabilisierung des Eises weniger günstig sein.
Doch es ist die Zeitskala, auf die es am Ende ankommt. "Was vor etwa 10.000 Jahren geschah, entscheidet wohl nicht, was in unserer heute mit CO2 vollgepumpten Welt geschieht, in der sich die Ozeane in den Polarregionen rasch erwärmen", sagt Scherer. "Wenn die Eisdecke jetzt durch die vom Menschen ausgelöste Erwärmung dramatisch schumpfen sollte, würde sich die Erdkruste so langsam heben, dass die Eisdecke erst dann wieder wüchse, wenn die Küstenstädte die Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs längst zu spüren bekommen haben."
Artikel: J. Kingslake, R.P. Scherer, T. Albrecht, J. Coenen, R.D. Powell, R. Reese, N.D. Stansell, S. Tulaczyk, M.G. Wearing, P.L. Whitehouse (2018): Extensive retreat and re-advance of the West Antarctic Ice Sheet during the Holocene. Nature [DOI: 10.1038/s41586-018-0208-x]
Weblink zum Artikel: http://dx.doi.org/10.1038/s41586-018-0208-x
Video: https://youtu.be/VuveqaHBxC0