Interview mit der Zeitschrift mare (August 2012)
Wie finden Sie Gewissheit für Ihre wissenschaftlichen Aussagen?
Eine letzte Gewissheit findet die Wissenschaft nie - sie gewinnt ihre Stärke gerade daraus, alles immer wieder zu hinterfragen. Naturwissenschaftliche Thesen zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie zwar prinzipiell widerlegbar sind, nicht aber endgültig beweisbar wie Aussagen der Mathematik. Es geht also nicht um Gewissheit, sondern um Fragen wie: Wie nah kommt eine Modellvorstellung oder Theorie der Realität? Wie gut ist sie durch Beobachtungsdaten gestützt? Wie wahrscheinlich ist eine darauf basierende Zukunftserwartung?
Erhalten wissenschaftliche Arbeiten durch Veröffentlichungen in Zeitschriften wie Science oder Nature einen Anspruch auf Wahrheit?
Nein. Gerade die Spitzenjournale wie Nature und Science publizieren ja Wissenschaft an der vordersten Front der Forschung, also die wirklich neuen Dinge, und die sind natürlich oft gerade die noch am wenigsten abgesicherten - neue Ideen müssen sich in der Wissenschaft immer erst bewähren und vielen kritischen Prüfungen standhalten, bevor sie breite Akzeptanz unter Forschern finden. Das kann viele Jahre oder Jahrzehnte dauern. Die unabhängige Begutachtung jeder Studie durch andere Forscher vor der Publikation durch eine Fachzeitschrift ist dazu der erste, notwendige Schritt. Er sichert die grundlegende Qualität der Arbeit. Aber nach der Veröffentlichung stürzen sich Fachkollegen auf die Ergebnisse und suchen Schwächen und Gegenargumente, um diese selbst wiederum zu veröffentlichen. Dieser Wettbewerb im Wissenschaftsbetrieb hat eine Wächterfunktion. Wissenschaft ist eine Suche nach Erkenntnis. Im Laufe dieser Suche werden viele Ideen vorgeschlagen und dann auf den Prüfstand gestellt, nur ein Teil davon hat Bestand. Allmählich werden dabei die gut gesicherten Erkenntnisse herausdestilliert.
Reicht die als Legitimation aus, die Ergebnisse der Veröffentlichung z.B. umweltpolitisch zu verwenden? Stellt dies eine so zu nennende „Konsenswahrheit“ dar?
Ein Konsens stellt sich immer erst nach langer und kontroverser Diskussion ein. Das muss auch so sein, weil ja gerade die kritische Diskussion und Prüfung die Robustheit der wissenschaftlichen Erkenntnisse erweist. Daher gibt es ja zum Beispiel beim Thema Klimawandel den IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), manchmal Weltklimarat genannt. Das ist kein kleines Beratergrüppchen sondern ein enorm breiter Diskussionsprozess, an dem tausende Wissenschaftler weltweit beteiligt sind um darzustellen: welche Erkenntnisse sind weitgehend Konsens, was ist noch umstritten, wo liegen die Unsicherheiten? Eine solide Grundlage für Umweltpolitik ist der derart breit in der Expertengemeinde abgestützte Sachstand - nicht das allerneueste Nature-Paper von einer Handvoll Autoren. Das kann vielleicht in einigen Jahren dann Teil eines Konsenses werden, wenn es durch weitere Forschung bestätigt und erhärtet wurde – oder eben nicht.
Wie lange oder wie genau muss ein Wissenschaftler forschen, bis er sicher ist, dass die Ergebnisse der Wahrheit entsprechen? Oder gibt es diese im engen Sinne von René Descartes gar nicht?
Aus meiner Sicht gibt es in der Naturwissenschaft
"die Wahrheit" nicht, es gibt nur mehr oder wenig gut
abgesicherte und mehr oder weniger präzise Erkenntnisse. Nehmen
wir das Weltmodell von Kopernikus, wonach die Erde mit den anderen
Planeten um die Sonne kreist. Ist das die Wahrheit? Es ist eine
Modellvorstellung, deren Grundidee sich als entscheidender Erkenntnisfortschritt
erwiesen und bestens bewährt hat. Das Modell erwies sich aber
dann doch insofern als falsch, als es von kreisförmigen Planetenbahnen
ausging, und Keppler konnte später zeigen, dass es sich eher
um Ellipsen handelt. Die Modellvorstellung von Ellipsen passt wesentlich
besser zu den Beobachtungsdaten, ist aber auch nicht die endgültige
"Wahrheit". Derart gut empirisch abgesicherte Erkenntnisse
werden durch den weiteren Fortschritt allerdings nicht mehr völlig
über den Haufen geworfen, sondern verfeinert.
Wenn Wissenschaftler nie die Wahrheit
im Sinne von Descartes finden, dürfen Sie denn überhaupt
Aussagen treffen, die einen gewissen Anspruch auf Wahrheit erheben?
Oder verlieren sie dadurch ihren Status als Wissenschaftler sogar
und werden angreifbar?
Wissenschaftler sollten angreifbar sein! Wir sind ja gerade nicht der Papst, der unfehlbare Wahrheiten verkündet. Wir stellen unsere wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisse immer einer kritischen Öffentlichkeit zur Diskussion, zuallererst der äußerst kritischen Fachöffentlichkeit. Diese Diskussion brauchen wir auch nicht zu scheuen. Ich schreibe deshalb für die Blogs Realclimate und Klimalounge, dort kann der interessierte Laie aus erster Hand erfahren, was uns Klimaforscher beschäftigt und wie wir denken.
Glauben Sie, dass die Wissenschaft heute gerade hinsichtlich der Umweltpolitik sich in ihrer Verantwortung die Physiker des 20. Jahrhunderts wie Heisenberg (alles ist unscharf, nichts endgültig wahr) oder Einstein (Relativität) zum Vorbild nehmen sollte und sich auf einen „neuen“, „unschärferen“ Wahrheitsbegriff (provokativ: Halbwahrheit) festlegen sollte?
Ich habe selbst ja meine Wissenschaftslaufbahn
mit allgemeiner Relativitätstheorie begonnen und dazu auch
publiziert. Ich denke nicht, dass Relativität oder Heisenbergs
Unschärfe etwas mit den noch vorhandenen Unsicherheiten im
Verständnis des Erdsystems zu tun haben oder mit der Notwendigkeit,
trotz Unsicherheiten verantwortungsvolle politische Entscheidungen
zu treffen. Entscheidend ist, dass auch das Ausmaß der Unsicherheit
ein wesentlicher Teil der wissenschaftlichen Erkenntnis ist und
vermittelt werden muss, wie es etwa der IPCC in vorbildlicher Weise
tut. Dort sind alle Aussagen mit ausführlicher Diskussion der
Unsicherheiten versehen, die ja in unterschiedlichen Bereichen sehr
unterschiedlich sind. So ist die Entwicklung der globalen Temperatur
physikalisch sehr gut verstanden, sie folgt im Wesentlichen einer
einfachen Strahlungsbilanz. Die Reaktion der Kontinentaleismassen
auf die Erwärmung ist dagegen viel komplexer und nur ungenügend
verstanden. Dennoch dürfen Wissenschaftler hier nicht warten,
bis sie letzte Gewissheit haben – denn dann wäre es für
ein Gegensteuern im Klimasystem zu spät.
Führt nicht folgerichtig aufgrund
der Erfahrung eines Wissenschaftlers die Wahrscheinlichkeit der
Wahrheit automatisch zur verantwortungsvollen Notwendigkeit des
Handelns? Und somit z. B. zu umweltpolitischen Aussagen?
Als Wissenschaftler haben wir die Pflicht, unsere
Erkenntnisse möglichst klar und verständlich der Öffentlichkeit
zu erläutern. Nicht nur, weil wir ja in der Regel vom Steuerzahler
bezahlt werden für die Arbeit, die wir tun. Es gibt auch eine
ethische Verantwortung in dem Sinne, dass jemand, der eine Gefahr
erkennt, auch seine Mitmenschen warnen muss. Wenn ich ein brennendes
Haus sehe, dann muss ich handeln, zum Beispiel die Feuerwehr rufen.
Genau wie Lungenärzte aufgrund ihrer Erkenntnisse uns davor
warnen müssen, dass Rauchen Krebs erzeugen kann, müssen
wir Klimaforscher die Öffentlichkeit darauf hinweisen, dass
unsere CO2-Emissionen das Klima aufheizen. Das gehört übrigens
zu den bestens gesicherten Erkenntnissen der Wissenschaft: die Bedeutung
des Treibhauseffekts für die Temperatur von Planeten hat schon
Anfang des 19. Jh. Joseph Fourier verstanden. John Tyndall hat 1859
in Laborexperimenten nachgewiesen, welche Gase den Treibhauseffekt
verursachen, und der schwedische Nobelpreisträger Svante Arrhenius
hat 1896 erstmals vorgerechnet, wie stark die globale Erwärmung
aufgrund einer Verdoppelung der CO2-Konzentration ausfallen würde.
Spätestens seit den 1950-er Jahren kann die Physik des Treibhauseffekts
als gut verstanden gelten. Im Jahr 1965 warnte der erste Expertenbericht
den damaligen US-Präsidenten vor einer globalen Erwärmung
aufgrund der CO2-Emissionen. Seit Jahrzehnten entwickelt sich die
globale Erwärmung wie vorhergesagt.
Die Frage aber, was wir dagegen tun wollen, ist natürlich keine
Frage, die allein die Klimaforscher beantworten sollten. Sondern
eine Frage für eine breite gesellschaftliche Debatte, und die
wird ja auch geführt. Die Rolle der Wissenschaftler ist es,
dazu beizutragen, dass diese Debatte auf Grundlage der besten Erkenntnisse
über das Klimasystem geführt wird.
Eine solch „neue“ Verantwortung
wäre doch wünschenswert. Aber wie gelänge die Umsetzung?
Denn es müssten ja Wahrheits-Kriterien eingeführt werden.
Ich glaube nicht, dass wir "Wahrheitskriterien" benötigen. Es ist doch nur selbstverständlich, dass politische Entscheidungen auf Basis der besten verfügbaren Informationen fallen sollten. Auch wenn diese nie einen absoluten Wahrheitsanspruch haben können - übrigens in keinem Feld der Politik. Die Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie sind wesentlich schlechter verstanden als die der Klimaphysik.
Es gibt ja die Fraktion derer, die z.B. Klimaforscher als Lügner bezeichnen und behaupten, die Klimaveränderungen wären nicht anthropogener Natur. Was entgegnen Sie denen?
Leider neigt der Mensch dazu, unbequeme Erkenntnisse zu verdrängen oder zu verleugnen. Das ist nichts Neues. Galilei, der sich aufgrund seiner eigenen Beobachtungen mit dem Teleskop für das kopernikanische Weltsystem engagierte, bekam deshalb massive Probleme mit weltanschaulich motivierten Gegnern und der römischen Inquisition - sein Buch "Dialog über die zwei Weltsysteme" war zwei Jahrhunderte auf dem Index der verbotenen Bücher, und Galilei stand bis an sein Lebensende unter Hausarrest. Im Vergleich dazu gehen wir heutigen Wissenschaftler wirklich kein Risiko ein, wenn wir uns für die wissenschaftlichen Erkenntnisse auch öffentlich engagieren, selbst wenn sie in manchen Kreisen auf Ablehnung stoßen. Die Wissenschaft sitzt längst nicht mehr im Elfenbeinturm sondern in der Mitte der Gesellschaft. Und da gehört sie auch hin.
(Das Interview führte Nicolaus Gelpke)