Klimaforscher Stefan Rahmstorf träumt von der Zukunft
Es ist Ende August 2002. Ich nehme die Bahn von Potsdam nach
Dresden. Zunächst den Regionalexpress nach Schönefeld.
Ein Bahnhof, der wie von der Zeit vergessen in der Nachmittagshitze
döst, Erinnerungen an meine Kindheitssommer weckt. Wann hat
zuletzt ein Zug hier gehalten? Welches Jahr, welches Jahrzehnt schreiben
wir? Es gibt kaum Hinweise. Eine handvoll Menschen mit Koffern steht
träge auf dem Bahnsteig - wie lange warten sie schon? Man hat
mir versichert, dass hier in Kürze ein Pendelzug von Berlin
Ostbahnhof nach Dresden Neustadt halten würde, doch nichts
deutet darauf hin. Die altmodische Anzeigentafel kündigt einen
Regionalzug nach Elsterwerda an, der jedoch schon vor einer Stunde
hätte fahren sollen. Vielleicht wirklich eine Zeitschleife?
Eine Uhr habe ich nicht bei mir.
Mir wird immer heißer in meinem Anzug, den ich wegen des für den Abend geplanten Fernsehauftritts beim MDR angezogen habe. Klimaforscher sind derzeit bei Talkshows gefragt. Ich wünsche mir die bequemen Leinenshorts herbei, die ich an solchen Tagen normalerweise trage, und denke wehmütig an das sonst fällige kühle Bad im See nach der Arbeit.
Eine halbe Stunde vergeht, schließlich hält quietschend der Zug. Tschechische Waggons. In einem leeren Abteil lege ich die Beine hoch. In den weichen Polstern wird mir irgendwie schummrig im Kopf. Diese Hitze! Vielleicht auch die Übermüdung. Ich dämmere weg in einen unruhigen Traum.
In diesem Traum bin ich ein alter Mann - es muss um das Jahr 2050 sein. Ich sitze auf dem Balkon meines Elternhauses, so wie meine Großmutter dort in diesem Alter immer gerne unter der gelben Markise gesessen hat, den Blick über den Bodensee und eine kühle Brise genießend. Doch in meinem Traum ist es heiß, sehr heiß. Das Thermometer ist schon wieder über vierzig Grad geklettert. Die Hitze macht mir zu schaffen.
Mein Blick schweift über die Insel Reichenau mit der verfallenen Ruine von St. Peter und Paul an ihrer westlichen Spitze, direkt am Ufer. Früher war ich oft dort hinüber gepaddelt, um Freunde zu besuchen. Doch wie so viele andere Reichenauer haben sie die Insel inzwischen längst verlassen und sind auf das Festland gezogen, damals nach dem vierten und schwersten großen Bodenseehochwasser im Jahr 2037. Die immer massiveren Spätwinter-Niederschläge im Alpenraum hatten nicht nur zur Räumung etlicher Bergtäler nach schweren Lawinenunglücken geführt, sondern auch den Bodenseeraum hart getroffen.
Das Stichwort Hochwasser lässt mich an Dresden denken. Gerne hätte ich noch einmal den Zwinger und die Semperoper besucht, solange ich noch rüstig genug für die Reise bin, doch deren Wiederaufbau ist schon seit Jahren in kleinlichem politischem Streit und Finanzierungsproblemen erstarrt. Nachdem die dritte Jahrtausendflut innerhalb von fünfzig Jahren die Fundamente schwer beschädigt hatte und eine erneute Restaurierung sinnlos erscheinen ließ, hatte man sich für Abriss, Aufschüttung der Elbuferzone um mehrere Meter und Wiederaufbau entschieden. Doch die Geldmittel sind durch die vielen Klimaschäden erschöpft. Auch von der EU ist keine Hilfe zu erwarten; seit die durch ein Jahrzehnt andauernder Dürre und die Halbierung der Tourismuseinnahmen gebeutelten Mittelmeerländer die Euro-Stabilitätskriterien aufgegeben hatten, war der Euro abgestürzt und die EU durch Dauerstreit gelähmt und kurz vor dem Zerbrechen.
Ein kurzer Signalton in meinem implantierten Mikrohörgerät kündigt einen Anruf an - es ist mein Neffe aus Berlin, schon wird sein Bild in meine Brillengläser eingeblendet. Er hat erst mal einen Hustenanfall, entschuldigt sich dann - ich wisse ja sicher, dass Berlin schon seit Tagen wieder unter der Smogwolke der im Umland wütenden Waldbrände liege. Ich hatte in der Tat eine kleine Zeitungsnotiz darüber gelesen - Schlagzeilen macht so etwas allerdings nur noch, wenn mal wieder die Villen in Grunewald vom Feuer bedroht sind. Ich erinnere mich noch wie wir früher, zu Anfang des Jahrhunderts, solche Bilder aus Sydney im Fernsehen gesehen haben. Mein Neffe berichtet, das Wasser sei wieder rationiert - nur zwei Stunden pro Tag sei Druck auf den Leitungen.
"Die Fahrkarten bitte!" Ich schrecke
auf, einen Moment desorientiert, dann erleichtert - alles war nur
ein Traum. Zum Glück schreiben wir noch das Jahr 2002. Das
steht jedenfalls auf meiner Bahncard, die ich nun vorzeigen muss.
Ich mache mir ein paar Notizen für die Sendung am Abend. Die
Frage, die mir gestellt werden würde, ist von vornherein klar.
Die Antwort ebenso: nein, natürlich könne man ein einzelnes
Hochwasser nicht auf den Klimawandel zurückführen, das
sei wissenschaftlich generell unmöglich. Nur wie es erklären,
ohne umständlich drum herum zu reden? Vielleicht so: es ist
wie mit einem Kettenraucher, der Lungenkrebs bekommt. Im einzelnen
Fall kann man nie wissen, ob das wirklich vom Rauchen kam, oder
ob er sowieso Krebs bekommen hätte, denn schließlich
kriegen auch Nichtraucher manchmal Lungenkrebs. Nur bekommen Raucher
eben wesentlich häufiger Krebs, und genauso gibt es durch die
Erderwärmung häufiger Hochwasser und andere Wetterextreme.
Wir bekommen also durch unsere rauchenden Schornsteine und Auspuffrohre
Stürme und Überschwemmungen, genau wie man vom Rauchen
Krebs bekommt. Ich hoffe, dieser Vergleich würde verständlich
sein.
Dann blättere ich zur Auffrischung des Gedächtnisses einige Papiere mit Szenariorechnungen durch. Doch schon bald fallen mir wieder die Augen zu.
Der nächste Traum ist noch seltsamer. Ich träume vom Ozean. Vom Atlantik. Wirres Zeug. Irgendwie müssen sich einige Szenarien aus unseren Rechenmaschinen in meine Träume verirrt haben. Durch die Erderwärmung haben sich die Meeresströme auf einmal verändert, wie es während der Eiszeit schon häufig vorgekommen ist. Der Meeresspiegel im Nordatlantik ist in wenigen Jahrzehnten um über einen Meter gestiegen, Teile Hamburgs stehen bei jeder mittleren Sturmflut unter Wasser, Sylt ist in Winterstürmen verloren gegangen, Berlusconi's große Flutbarrieren haben Venedig nicht retten können. Skandinavien ist in eisiger Kälte erstarrt, während die Tropen unter unmenschlicher Hitze ächzen. Fischerei und Landwirtschaft in Nordeuropa sind praktisch am Ende.
"Der Zug endet hier. Bitte alles aussteigen." Jäh erwache ich, schweißnass. Dresden.
In der Sendung am Abend bekommen die Politiker sich sogleich in die Haare, liefern sich Schaukämpfe für das Wahlvolk. Partei A hätte die Fluthilfe ganz anders finanziert als Partei B - oder ist es gerade umgekehrt?
Luftaufnahmen von den Überflutungen werden gezeigt. Ich bin erschüttert: eine zeigt Weesenstein, der halbe Ort vom Wasser der Müglitz hinweggerissen. Das habe ich bisher nicht gewusst. Hier hat meine Mutter einige Monate ihrer Kindheit verbracht - Kriegsmonate, auf der abenteuerlichen Flucht aus Schlesien hat sie vor über fünfzig Jahren im Schloss Weesenstein Unterschlupf gefunden, russische Truppen kampierten damals schon im Schlosspark. Erst vor einigen Monaten war ich mit ihr an diesen Ort zurückgekehrt, hatte das vergilbte kleine Schwarzweißfoto von dem Mädchen vor dem Schloss mit der Realität verglichen und ein neues Foto gemacht. Dieser Krieg schien mir unendlich lange her, und Weesenstein war bislang eine Familienlegende gewesen, ein irrealer Ort aus Erzählungen, unerreichbar - nun standen wir dort und alles war real, meine Mutter erkannte die Straßen und Häuser des Dorfes, alles war noch da. Bis letzte Woche.
Oder sind die Bilder des zerstörten Weesenstein nur einer meiner Albträume im Zug gewesen, oder ein kaum glaubhaftes Computerszenario?
Nach der Sendung, gegen Mitternacht, nehme ich ein
Taxi zum Elbufer. Es sei wieder beleuchtet, ich müsse es unbedingt
sehen, haben mir meine Gastgeber gesagt. Von den Brühl'schen
Terrassen schaue ich in das dunkel dahinfließende Wasser hinunter,
aus dem Ampeln und Straßenlaternen herausragen. Immer wieder
fahren Konvois des Technischen Hilfswerks mit Blaulicht vorbei.
Pumpen laufen. Etliche Teile der Altstadt sind noch fast ohne Licht,
die Stimmung ist gespenstisch.
Am nächsten Morgen im Zug nach Berlin bin ich immer noch müde.
Es war schon wieder eine zu kurze Nacht. Ich kann die Augen nicht
offen halten. Vielleicht liegt es an der Herzlichkeit und Wärme
meiner Gastgeber in Dresden - aber diesmal ist mein Traum viel freundlicher.
Ich bin ein alter Mann und sitze auf dem Balkon mit Blick über den Bodensee. Drüben auf der Insel Reichenau sehe ich wie eh und je die schöne Kirche St. Peter und Paul, wie sie dort schon seit über neunhundert Jahren steht. Gleich daneben wohnen meine Freunde, alte Freunde aus der Schulzeit. Ich spaziere gemächlich zum Anlegesteg hinunter, nehme die Solarfähre um sie zu besuchen. Ihre Enkelkinder sind auch da. Sie wissen, dass ich mal Klimaforscher war, und löchern mich mit Fragen, wie das denn damals war. Wann habt ihr gemerkt, dass etwas nicht stimmt mit dem Klima? War es denn nicht schwer, vom fossilen Brennstoff wegzukommen?
"Nein, schwer eigentlich nicht. Als Europa nach dem Elbehochwasser konsequent begann, sein Energiesystem umzustellen und die fossilen Brennstoffe systematisch zu verteuern, gab es auf einmal rasante technische Fortschritte. Wir in Deutschland gehörten sogar zu den Gewinnern der Energiewende, weil andere noch später aufgewacht sind." Ich lächle. "Es war eigentlich viel leichter als gedacht. Natürlich gab es anfangs noch ein paar kleine Widerstände..."
Erst am Ostbahnhof wache ich auch aus diesem Traum
auf. Es ist 2002, und der Weg liegt noch vor uns.
Weitere
Informationen zum Klimawandel findet man auf der home page des
Autors: www.pik-potsdam.de/~stefan.
Dieser Essay erschien in dem Buch: Im Klimawandel angekommen. Was nun? (ed. D. Lehmann), pp. 15-18 (Projekte-Verlag, Halle, 2005).