Enteignung im Namen der Natur
Verzweifelter Plan gegen Erderwärmung: Öl, Kohle und Gas sollen im Boden bleiben
Falls der Mensch alle derzeit bekannten Lagerstätten von Kohle, Öl und Gas nutzen sollte, entstünden nach derzeitigen Schätzungen etwa 11.000 Milliarden Tonnen (GT) Kohlendioxid. Wenn die Erderwärmung in noch erträglichen Grenzen von zwei Grad gehalten werden soll, dürfen nach Auskunft des Weltklimarates IPCC jedoch nur noch rund 1100 GT Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangen. Etwa 90 Prozent der derzeit bekannten fossilen Brennstoffe – und alle, die noch entdeckt werden – müssten demnach in der Erde bleiben. Sollte die Staatengemeinschaft das durchzusetzen versuchen?
Das wäre eine historisch beispiellose Entwertung von fossilen Ressourcen und damit faktisch eine Enteignung von deren Besitzern, meint der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgeforschung (PIK), Hans Joachim Schellnhuber, auch mit Blick auf die Ölscheichs und Länder mit Kohleflözen. Und tatsächlich haben einige Ölstaaten auf Klimakonferenzen Entschädigungszahlungen gefordert, falls sie ihre Ressourcen aus Klimaschutzgründen im Boden lassen sollen. Ärmere Staaten möchten Geld, damit sie es sich leisten können, ihren Urwald zu bewahren.
Wenn der Mensch aber Ölfelder, Urwälder und andere Ressourcen weiter wie bisher ausbeutet, wird die Durchschnittstemperatur auf der Erdoberfläche nach IPCC-Schätzungen bis 2100 um 3,7 bis 4,8 Grad steigen – im Vergleich zum Beginn der Industrialisierung. „Die Differenz entspricht ungefähr der zwischen einer Eiszeit und einer Warmzeit. Nur, dass sich das damals über viele Tausend Jahre vollzog“, erläutert Schellnhuber. Viele Ökosysteme würden demnach den schnellen Temperaturwechsel nicht verkraften.
In einem Teil des Westantarktischen Eisschildes habe der Schmelzvorgang wahrscheinlich jetzt schon den sogenannten Kipppunkt überschritten. „Der ist wohl nicht mehr aufzuhalten“, sagt der Klimaforscher. Das entspreche in etwa 1,5 Meter Meeresspiegelanstieg, auch wenn dieser erst innerhalb der kommenden Jahrtausende erreicht werde. Entscheidend seien die nächsten 10 bis 20 Jahre. Der größte Teil von Kohle, Öl und Gas aus bekannten Lagerstätten kann derzeit noch nicht wirtschaftlich lohnend gefördert werden. Wie schnell sich das ändern kann, zeigt sich gerade beim Fracking: Lange Zeit hat es sich nicht gelohnt, in größerem Umfang Flüssigkeiten in tiefere Erdschichten zu pressen und so Öl oder Gas aus dem Gestein zu gewinnen. Mit einer besseren Technik und steigendem Ölpreis wurde das Fracking binnen weniger Jahre lukrativ und insbesondere in den USA ausgebaut.
Christophe McGlade und Paul Ekins vom University College London schlagen im Journal „Nature“ vor, welche fossilen Reserven in der Erde bleiben sollen, um die Erderwärmung mit einer Chance von 50 Prozent auf zwei Grad zu begrenzen. Zudem haben die Forscher berechnet, wo welche Ressourcen besonders günstig ausgebeutet werden können, und präsentieren damit so etwas wie eine globale Optimallösung. Demnach müssten weltweit 35 Prozent der gegenwärtig förderbaren Ölreserven ungenutzt bleiben. Bei Gas sollten es gut 50 Prozent und bei Kohle rund 90 Prozent sein.
In Europa sollten 89 Prozent der derzeit lukrativ förderbaren Kohle im Boden bleiben, in den USA 95 Prozent, in China und Indien 77 Prozent. Im Nahen Osten müssten 38 Prozent des Öls ungenutzt bleiben, in Kanada 75 Prozent. In der Industrie rechne kaum jemand damit, Ressourcen im Boden lassen zu müssen, sagt Schellnhuber: „Meine Erfahrung in Davos war wieder: Diese Notwendigkeit ist kaum jemandem bekannt.“ Viele Unternehmer nähmen die Diskussionen um das Klima nicht ernst. „Sie denken, das ist halt so eine Debatte, die von verrückten Umweltschützern und weltfremden Wissenschaftlern geführt wird.“ Dabei könnte der Energiemarkt bald vollkommen auf den Kopf gestellt werden.
Der Begriff Enteignung sei natürlich das größte Schreckgespenst von allen Möglichkeiten, das Klima zu schützen, meint Schellnhuber. Er rechne nicht mit einer großräumigen Enteignung per Dekret, sondern mit einer „industriellen Transformation“. Deren Zutaten seien vor allem technischer Fortschritt und öffentlicher Druck, aber wahrscheinlich auch Steuern oder zum Beispiel Einspeisetarife für Ökostrom. „Die Steinzeit endete nicht, weil die Steine knapp wurden, und so weiter”, sagt der Klimaforscher. Wenn die erneuerbaren Energien kostengünstig, stabil und leicht erreichbar seien, „dann gibt es eigentlich keinen Grund mehr, Kohle aus der Erde zu kratzen“.
„Einige Entwicklungsländer fragen sich natürlich, warum sie ihre vorhandenen Reserven ungenutzt lassen sollten, wenn dies doch ihr vorrangiges Ziel – die Bekämpfung der Armut – erschwert“, sagte vor kurzem Michael Jakob vom Mercator-Klimaforschungsinstitut.
„Eine erfolgreiche Klimapolitik ist letztlich eine Frage der Entschädigung“, meint auch er. Nur ein globales Klimaübereinkommen, das Verluste erstatte und von allen Teilnehmern als gerecht empfunden werde, könne auf lange Sicht die Nutzung fossiler Energieträger streng begrenzen.