"Der Meeresspiegel reagiert sensibel auf alle Emissionen" – Seite 1
ZEIT ONLINE: Im Magazin Nature Communications haben Sie, gemeinsam mit Ihren Kollegen, gerade eine Studie veröffentlicht, in der Sie den Anstieg des Meeresspiegels abschätzen (Mengel et al., 2018). Den Ergebnissen zufolge wird er bis zum Jahr 2300 um etwa 0,7 bis 1,2 Meter steigen – sofern die Klimaschutzziele, denen die Unterzeichnenden des Paris-Abkommens zugestimmt haben, erreicht werden. Wie sind Sie auf die Zahlen gekommen?
Matthias Mengel: Wir haben uns eine einfache Frage gestellt: Wie stark wird der Meeresspiegel ansteigen, falls das Paris-Abkommen eingehalten wird? Und das nicht nur bis 2100, sondern bis zum Jahr 2300, denn der Meeresspiegelanstieg ist ein sehr langsamer Prozess – er pendelt sich über Jahrhunderte ein. Man sieht also nicht gleich, was man verursacht.
In eine solche Abschätzung des Meeresspiegels gehen Fragen ein wie: Wie dehnen sich die Ozeane aus? Wie werden die Gletscher abschmelzen? Wie stabil werden die Eisschilde in Grönland und der Antarktis sein? Wir haben berechnet, was diese Faktoren des Meeresspiegelanstiegs tun, wenn das Pariser Klimaabkommen eingehalten wird. Es legt nicht genau fest, wie die Emissionen in den nächsten Jahrzehnten aussehen sollten. Für die Zeit bis 2300 haben wir verschiedene Szenarien durchgespielt und herausgefunden, dass ein Verschieben einer Wende zu niedrigeren Emissionen um nur fünf Jahre im Jahr 2300 einen 20 Zentimeter höheren Meeresspiegel verursachen kann. Fünf Jahre Emissionen machen genauso viel Meeresspiegelanstieg wie seit Beginn der Industrialisierung – das zeigt, wie empfindlich das System ist. Wir schreiben also gerade Meeresspiegelgeschichte.
ZEIT ONLINE: Stiege der Meeresspiegel immer noch an, wenn wir jetzt sofort all unsere Treibhausgasemissionen herunterschrauben würden?
Mengel: In unserem extremsten Szenario würden die CO2-Emissionen auf der Erde im Jahr 2020 beginnen zu fallen und ungefähr im Jahr 2040 bei Null ankommen. Das ist schon sehr nah an einem "jetzt sofort". Der Meeresspiegel würde trotzdem steigen, ich schätze, ungefähr einen halben Meter bis zum Jahr 2300. Das ist das Ergebnis der CO2-Emissionen, die bisher schon ausgestoßen wurden.
ZEIT ONLINE: Was passiert, wenn die Staaten das Paris-Abkommen nicht einhalten, also ihren CO2-Ausstoß nicht einschränken?
Mengel: Dann wird der Meeresspiegel höher steigen als die hier angegebenen Zahlen. Und es gibt ein Risiko, dass das viel höher ist. Wir wissen momentan noch relativ wenig darüber, wie die Eisschilde auf starke Klimaerwärmung reagieren. Hier bedarf es noch mehr Forschung. Eines steht jedoch fest: Der Meeresspiegel reagiert sensibel auf alle Emissionen, die wir ausstoßen.
ZEIT ONLINE: Neue Meldungen mit neuen Zahlen zum Anstieg gibt es häufig in letzter Zeit. Gerade letzte Woche veröffentlichten US-amerikanische Forscher eine Studie, die besagt, dass der Meeresspiegel im Jahr 2100 doppelt so hoch liegen werde, wie bisher vermutet. Er werde im Jahr 2100 um rund 65 Zentimeter angestiegen sein. Zuvor gingen Klimawissenschaftlern von etwa 30 Zentimetern aus. Teilweise widersprechen sich also diese Schätzungen. Wie kann das sein?
Mengel: In der Wissenschaft ist es normal, dass sich diese Zahlen von Zeit zu Zeit ändern. Das ist ein ganz normaler Prozess der fortschreitenden Forschung. Kommen neue Erkenntnisse heraus, bauen wir sie in unsere Modelle ein. Das führt wiederum zu neuen Annahmen, Beobachtungen und Zahlen. Diese Zahlenänderungen zeigen, dass die Klimaforschung ein sehr aktives Forschungsfeld ist.
Die Studie, von der Sie sprechen, beschäftigt sich mit der Vergangenheit. Die Wissenschaftler haben sich Satellitenmessungen der vergangenen Jahre angeschaut, daraus abgeleitet, wie sich der Meeresspiegelanstieg in dieser Zeit beschleunigt hat, um dann zu fragen: Was würde es heißen, wenn einfach alles genauso weitergeht wie in der Vergangenheit? Eine solche Annahme heißt im Endeffekt auch: Alles ist schon festgelegt, der Mensch kann nichts mehr machen. Dem ist natürlich nicht so. Wir haben uns in unserer Studie dagegen eher auf die Zukunft konzentriert und geschaut, was unter der Annahme passiert, dass die Staaten tatsächlich sehr viel machen und ihre Zusagen aus dem Paris-Abkommen einhalten. Weil die Emissionen unter dem Abkommen in der ferneren Zukunft schon festgelegt sind, schärft unsere Annahme den Blick auf die nähere Zukunft. Wir können dann Aussagen dazu treffen, was eigentlich die nächsten Jahrzehnte an Emissionen mit dem Meeresspiegel machen. Jede Studie ist ein Versuch, aus einer anderen Perspektive abzuschätzen, wie die Zukunft aussehen wird.
"Wir kennen die großen Antworten in der Klimaforschung"
ZEIT ONLINE: Schadet es nicht der Glaubwürdigkeit der Klimaforschung, wenn Forschende ständig Einzelstudien publizieren und daraus dann Warnungen und Handlungsempfehlungen ableiten – und wenn wenige Wochen später wieder eine andere Arbeitsgruppe etwas anderes veröffentlicht?
Mengel: Daran kann man gut erkennen, wie Wissenschaft überhaupt funktioniert. Es heißt nichts weiter, als dass Klimaforschung gerade ein sehr aktives Feld ist. Nehmen Sie nur das Beispiel der Quantenphysik-Forschung von 1910: Heute gelten die Grundlagen der Quantenphysik einfach als wahr – als Naturgesetze. Wir wissen jetzt: Die Quantentheorie beschreibt sehr gut, wie die Welt im Kleinen funktioniert. Aber in dieser Zeit um 1910 gab es ständig Streit um die Hypothesen – es gab keine klare Wahrheit. Manche Hypothesen wurden irgendwann widerlegt, andere stetig durch neue Erkenntnisse untermauert. Diese Widersprüche waren damals in der Quantentheorie und sind heute in anderen Bereichen der Wissenschaft Teil eines großen Prozesses, um sich der Wahrheit anzunähern. So schafft man Wissen.
Ich will aber nochmal deutlich machen: Die einzelnen Schätzungen zum Meeresspiegel sind eigentlich Details. Die wirklich großen Antworten in der Klimawissenschaft kennen wir ja: Der Klimawandel ist menschengemacht, mehr CO2 führt zu mehr Erwärmung, der Meeresspiegel steigt durch die globale Erwärmung. In der Wissenschaftscommunity herrscht darüber praktisch zu 100 Prozent Einigkeit. Wichtig ist, dass man sich nicht von einzelnen Details aus den Studien – die sich teilweise widersprechen – verwirren lässt, um dann daraus zu folgern, dass bei diesen großen Fragen noch Zweifel bestehen könnten.
ZEIT ONLINE: Worauf sollte man achten, wenn man etwas über Schätzungen zum Meeresspiegelanstieg liest?
Mengel: Leserinnen
können darauf achten, wo die wissenschaftlichen Erkenntnisse
veröffentlicht wurden, wenn sie über wissenschaftliche Studien in den
Medien lesen. Wenn in journalistischen Artikeln beispielsweise deutlich
wird, dass die Studie in wissenschaftlichen Journals wie PNAS, Science oder eben in unserem Fall Nature Communications
erschienen ist, ist das schon mal gut. Dann kann man normalerweise
davon ausgehen, dass es sich dabei um solide Ergebnisse handelt. Andere unabhängige Wissenschaftler, deren Namen man nicht kennt, haben diese Studien begutachtet – und das häufig mit sehr kritischem Blick. Gerade
Studien aus Kreisen von Klimawandelleugnern, die belegen sollen, dass es den
Klimawandel nicht gibt, erscheinen nicht dort. Es wird ab und zu versucht solche Studien in wissenschaftlichen Journalen zu veröffentlichen, aber für die Gutachter sind die Widersprüche meist schnell klar.
ZEIT ONLINE: An welcher Stelle laufen all diese Daten zusammen – wer beurteilt am Ende alle Studien in ihrer Gesamtheit?
Mengel: Der Weltklimarat (IPCC) stellt etwa alle sieben Jahre eine Übersicht aller Ergebnisse in der Klimaforschung zusammen. Für den Bericht schauen sich Forscher alle Studien an, die in der Zeit seit der letzten Übersicht veröffentlicht wurden, beurteilen deren Argumentation und Methoden und fassen daraus ein Gesamtbild der Klimawissenschaft zusammen. Selbst darin werden sich einige Dinge widersprechen. Im neuen Bericht – der letzte ist von 2013 – werden wir wahrscheinlich einige Unterschiede sehen. Zum Beispiel zu den Eisschilden der Antarktis und Grönlands. Die letzten Jahre brachten viele neue Studien, die uns ganz neue Seiten der Antarktis aufzeigten. Jede Studie wirft ein neues Licht auf die Klimasituation.
ZEIT ONLINE: Dass der menschengemachte Klimawandel existiert und dass etwa der Meeresspiegel steigen wird – daran zweifelt kein seriöser Forscher mehr. Aber viele Menschen argumentieren auch: In den Milliarden Jahren, in denen sich die Erde entwickelt hat, hat sich auch das Klima immer dramatisch verändert. Es gab Eiszeiten und Hitzeperioden, Arten sind ausgestorben, neue entstanden – der natürliche Lauf der Dinge. Ist das ein Argument, den Klimawandel einfach laufen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass sich die Natur schon anpassen wird?
Mengel: Nein, das Argument passt einfach nicht zu unserer Realität. Die Zeitabstände sind ganz andere. Beispielsweise können viele Arten in der kurzen Zeit nicht mitwandern, in der sich Klimazonen ändern werden. Korallen sind ein gutes Beispiel dafür. Sie reagieren sehr empfindlich auf klimatische Veränderungen. Außerdem leben auf dieser Erde jetzt sieben Milliarden Menschen, die ihr Zusammenleben in bestimmten staatlichen und wirtschaftlichen Strukturen organisieren. Das Klima spielt dabei eine wichtige Rolle, denn bisher fand die menschliche Entwicklung in einem relativ stabilen Klima statt. In Zukunft wird das aber nicht mehr so sein. Mit dem Klima ändert sich die Lebensgrundlage vieler Menschen. Das sollten wir nicht unterschätzen.